6

 

Tolliver war außer sich vor Wut, als er am nächsten Morgen ins Zimmer kam. Die Schwestern redeten noch immer über die nächtliche Aufregung und hatten es kaum erwarten können, ihm von dem Ereignis zu erzählen. Sie hatten sich gierig auf ihn gestürzt. Mit dem Ergebnis, dass Tolliver kurz davor stand, Feuer zu spucken, als er meine Tür aufriss.

»Ich fass es einfach nicht«, sagte er. »Diese Schweine! Sich nachts ins Krankenhaus zu schleichen, direkt in dein Zimmer! Meine Güte, du musst ... hast du geschlafen? Haben sie dich erschreckt?« Seine Wut verwandelte sich innerhalb kürzester Zeit in Besorgnis.

Ich war zu müde, um ihm etwas vorzumachen. Ich war in der Nacht mindestens dreimal hochgeschreckt, sicher, dass da noch jemand mit mir im Zimmer war!

Tolliver sagte: »Wie sind die überhaupt hier reingekommen? Der Eingang ist eigentlich nach neun Uhr abends geschlossen. Dann muss man auf einen großen Knopf vor der Notaufnahme drücken, wenn man ins Gebäude will. Das steht zumindest auf dem Schild.«

»Entweder, jemand hat aus Versehen eine Tür offen gelassen, oder man hat ihnen Zutritt gewährt. Natürlich ohne zu wissen, um wen es sich dabei handelt.«

Ich versuchte, fair zu sein. Ich war in dem kleinen Krankenhaus wirklich gut behandelt worden und wollte nicht glauben, dass jemand vom Personal bestochen worden oder so hinterhältig war, die Reporter zum Spaß hereinzulassen.

Tolliver sprach sogar den Arzt darauf an.

Dr. Thomason hatte erneut Dienst. Er wirkte wütend und peinlich berührt zugleich, machte aber gleichzeitig den Eindruck, als habe er genug von dem Ganzen.

Ich warf Tolliver einen vielsagenden Blick zu, und er war klug genug, aufzuhören.

»Sie werden mich aber doch heute trotzdem entlassen?«, sagte ich und versuchte den Arzt anzulächeln.

»Ja, ich denke, wir werfen Sie raus. Sie erholen sich gut von Ihren Verletzungen. Das Reisen wird Ihnen zwar noch schwerfallen, aber wenn Sie unbedingt wollen, können Sie gehen. Selbstverständlich dürfen Sie nicht Auto fahren, nicht, bis ihr Arm verheilt ist.« Der Arzt zögerte. »Ich fürchte, unser Städtchen hat keinen guten Eindruck bei Ihnen hinterlassen.«

Ein Serienmörder, ein Überfall aus heiterem Himmel und ein unsanftes Gewecktwerden ... warum sollte ich keinen guten Eindruck von Doraville haben? Aber ich war so höflich und geistesgegenwärtig zu sagen: »Alle hier waren sehr nett zu mir, und kein Krankenhaus hätte mich besser behandeln können.« Dr. Thomason stand die Erleichterung deutlich ins Gesicht geschrieben. Vielleicht hatte er befürchtet, dass ich eine von denen bin, die jeden verklagt, der sie einmal schief angesehen hat.

Ich dachte an die sympathischen Leute, denen ich hier begegnet war, daran, dass Manfred und Xylda extra hergekommen waren, um uns zu sehen. Ihretwegen hatte ich schon überlegt, den Rest des Tages hierzubleiben, damit wir uns austauschen konnten. Aber nach dieser furchtbaren Nacht wollte ich nur noch hier weg.

Wie üblich dauerte es ewig, bis die Entlassungsformalitäten erledigt waren, aber gegen elf kam endlich eine Schwester mit dem angeforderten Rollstuhl, während Tolliver unsere Sachen zusammenpackte und vor den Krankenhauseingang fuhr, um mich abzuholen. Ein weiterer Rollstuhl stand kurz vor dem Ausgang. In diesem saß eine sehr junge Frau um die zwanzig, die ein großes Bündel in ihren Armen hielt. Eine ältere Frau, wahrscheinlich ihre Mutter, war bei ihr. Die Mutter bewachte einen Wagen mit rosa Blumenarrangements, einem Stapel Glückwunschkarten, die ebenfalls überwiegend rosa waren, und mehreren Geschenkschachteln. Ein Stapel Broschüren war auch mit dabei. Auf der obersten stand: »So bringen Sie Ihr Baby nach Hause«.

Die frischgebackene Oma strahlte mich an, und sie und meine Krankenschwester begannen ein Gespräch. Die junge Frau im Rollstuhl blickte zu mir hinüber. »Schauen Sie nur«, sagte sie glücklich. »Meine Güte, als ich das letzte Mal im Krankenhaus war, habe ich meinen Blinddarm dagelassen. Jetzt verlasse ich es mit einem Baby.«

»Wie schön für Sie«, sagte ich. »Herzlichen Glückwunsch! Wie heißt es?«

»Wir haben sie Sparkle genannt«, sagte sie. »Ist das nicht süß? Diesen Namen wird niemand jemals vergessen.«

Wo sie recht hatte, hatte sie recht. »Er ist unvergesslich«, pflichtete ich ihr bei.

»Da ist Josh«, rief die Oma und schob Tochter und Enkeltochter durch die sich automatisch öffnenden Glastüren.

»War das nicht das niedlichste kleine Mädchen überhaupt?«, sagte meine Krankenschwester. »Das erste Enkelkind für die Familie.« Da die Oma höchstens Ende dreißig gewesen war, war ich erleichtert, das zu hören.

Ob mein vom Blitz gegrillter Körper wohl ein Kind austragen konnte?

Dann war ich an der Reihe, die Rampe hinuntergeschoben zu werden, und Tolliver lief um den Wagen herum, um mir zu helfen. Nachdem ich mich vorsichtig auf den Beifahrersitz hatte gleiten lassen, beugte er sich vor, um mich anzuschnallen, und umrundete den Wagen erneut, um sich hinters Steuer zu setzen.

Die Schwester beugte sich vor, um zu überprüfen, ob ich heil und vollständig im Wagen saß, bevor sie die Autotür zumachte. »Alles Gute«, sagte sie lächelnd. »Hoffentlich sehen wir Sie hier nicht so bald wieder.«

Ich lächelte zurück. Ich war mir sicher, dass ich der anderen Patientin leidgetan hatte, aber jetzt, wo ich in unserem Wagen saß und Tolliver bei mir war, fühlte ich mich deutlich besser. Ich hatte Medikamente verschrieben bekommen, der Arzt hatte mir erklärt, auf was ich achten musste, und ich durfte hier weg. Es war ein fantastisches Gefühl.

Wir fuhren rechts aus dem Parkplatz, und ich konnte nicht mehr Verkehr als sonst ausmachen. Es waren weit und breit keine Journalisten zu sehen. »Fahren wir zurück ins Motel, oder dürfen wir hier endgültig weg?«, fragte ich.

»Wir lösen deine Rezepte ein, und dann verlassen wir die Stadt«, sagte Tolliver. »Was können die noch von uns wollen?«

Wir hielten an der ersten Apotheke, die wir sahen. Sie lag ein paar Häuserblocks vom Krankenhaus entfernt und war ein einheimisches Geschäft, das zu keiner Kette gehörte. In seinem Innern schlug uns eine verrückte Duftmischung aus Bonbons, Medikamenten, Duftkerzen, getrockneten Blütenblättern und Kaugummiautomaten entgegen. Hier bekam man Schreibwaren, Bilderrahmen, eine Anthologie mit Gedichten von Walt Whitman, Wärmekissen, Zeitschriften, Pappteller und Wecker. Und an der hohen Theke am hinteren Ende konnte man doch tatsächlich seine Rezepte einlösen. Vor dieser Theke standen zwei Plastikstühle, und der Mann dahinter bewegte sich dermaßen träge, dass Tolliver und ich bestimmt noch Zeit haben würden, sie auf ihre Bequemlichkeit hin zu testen.

Bisher hatte meine einzige Anstrengung darin bestanden, aus dem Wagen zu steigen und die Apotheke zu betreten. Ich war also nicht sehr begeistert festzustellen, wie erleichtert ich angesichts der Plastikstühle war. Ich setzte mich auf einen der beiden, während Tolliver die Rezepte dem jungen Mann gab, dessen weißer Kittel aussah, als sei er gebleicht und gestärkt worden - vielleicht war es auch sein erster. Ich versuchte das Datum auf der gerahmten Urkunde hinter ihm an der Wand zu entziffern, konnte das Kleingedruckte aus dieser Entfernung jedoch nicht richtig erkennen.

Der junge Apotheker war äußerst pflichtbewusst. »Ma'am, Sie wissen, dass Sie das hier zu den Mahlzeiten einnehmen müssen?«, fragte er und hielt ein braunes Pillengläschen hoch. »Und die hier müssen Sie zweimal täglich schlucken. Wenn Nebenwirkungen auftreten, die auf dem Beipackzettel stehen, müssen Sie einen Arzt rufen.« Nachdem wir das kurz besprochen hatten, fragte Tolliver, wo wir zahlen könnten, und der Apotheker zeigte auf die Theke am Ladeneingang. Ich musste aufstehen und folgte Tolliver. Als wir an der vorderen Theke standen, mussten wir warten, bis eine andere Kundin ihr Wechselgeld bekam und fertig geratscht hatte. Dann mussten wir der Angestellten gestehen, dass unsere Versicherung die Medikamente nicht übernahm und wir alles in bar zahlen würden. Sie wirkte überrascht, aber hochzufrieden.

Wir verließen gerade den Laden und waren im Begriff, ins Auto zu steigen, als uns Sheriff Rockwell entdeckte. Beinahe hatten wir es geschafft, Doraville zu verlassen.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Wir brauchen Sie noch mal.«

Es schneite in diesem Moment zwar nicht, aber der Himmel war immer noch grau. Ich sah zu Tolliver hoch, der so weiß war wie Schnee.

»Womit können wir Ihnen dienen?«, fragte ich überflüssigerweise.

»Unter Umständen gibt es noch mehr Leichen«, sagte sie.

 

Wir mussten neu verhandeln. Twyla hatte mir noch keinen Scheck für die erste, erfolgreiche Suche ausgestellt, und ich arbeite nicht ehrenamtlich. Außerdem waren überall Journalisten. Ich arbeite nicht vor Kameras, nicht, wenn es sich vermeiden lässt.

Da der Parkplatz hinter dem Revier durch einen hohen Stacheldrahtzaun geschützt war, konnten wir dieses unbemerkt durch die Hintertür betreten, zumindest ohne dass die Medien etwas davon mitbekamen. Jeder allerdings, der gerade Dienst hatte und nicht am Ausgraben der Leichen beteiligt war, nutzte die Gelegenheit, an Sheriff Rockwells Büro vorbeizulaufen und einen Blick auf mich zu werfen. Mit meinem eingegipsten Arm und dem Kopfverband war ich wirklich höchst sehenswert. Tolliver saß an meiner gesunden Seite, damit er meine rechte Hand halten konnte.

»Du gehörst ins Bett«, sagte er. »Ich weiß nicht, wo wir übernachten sollen, wenn wir bleiben. Ich habe unser Motelzimmer aufgegeben und wette, es ist längst belegt.«

Ich schüttelte schweigend den Kopf und horchte in mich hinein, ob ich noch mehr Leichen verkraften konnte. Einerseits verdienten wir nach wie vor unser Geld damit, andererseits fühlte ich mich hundeelend.

»Was für Leichen sollen das sein?«, fragte ich Sheriff Rockwell. »Ich habe alle Vermissten von hier gefunden.«

»Wir haben uns sämtliche Vermisstenfälle der letzten fünf Jahre angesehen«, sagte Rockwell. »Wir haben noch zwei mehr entdeckt, Jungen, die etwas älter waren als die auf dem Davey-Grundstück.«

»Auf dem was?«

»Das Haus, der Schuppen und der Garten gehörten Don Davey und seiner Familie. Don war ein Witwer, weit über achtzig. Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Er ist vor ungefähr zwölf Jahren gestorben, und seitdem steht das Haus leer. Die Verwandte, die es geerbt hat, lebt in Oregon. Sie ist nicht einmal hergekommen, um sich das Grundstück anzusehen. Sie hat auch nicht versucht, es zu verkaufen. Sie dürfte mittlerweile ebenfalls um die achtzig sein und scheint kein Interesse zu haben, irgendetwas zu unternehmen.«

»Hat man ihr jemals ein Angebot gemacht?«

Rockwell wirkte überrascht. »Nein, sie hat nichts dergleichen erwähnt.«

»Und wo vermuten Sie einen weiteren Fundort?«

»In einer alten Scheune mit Lehmboden. Die wird schon seit über zehn Jahren nicht mehr benutzt, die Besitzer haben sie einfach verfallen lassen.«

»Und wie kommen Sie darauf, dass ausgerechnet dort noch mehr Leichen liegen könnten?«

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